Das
Erinnern ist eine der bedeutendsten, vielleicht sogar die zentrale
menschliche Fähigkeit. Nun mag es auf den ersten Blick
verwundern, den Comic mit Erinnerung in Verbindung zu bringen.
Lange Zeit wurde der Comic als Teil der entertainment industry
eher mit Wegwerf- und Jugendkultur, mit Vergessen eher als mit
Erinnerung konnotiert. Erst in den späten 1980er-Jahren
änderte sich die öffentliche Wahrnehmung. In den 1990er-Jahren
entwickelte das Pariser Verlagshaus LAssociation eine
Buchästhetik, welche danach suchte sich durch ihr anspruchsvolles
künstlerisches Format von den Comicalben des Mainstreams
formal und inhaltlich abzuheben. Die Werke des französischen
Comicautors Emmanuel Guibert gliedern sich in diesen Kontext
der Neudefinition der neunten Kunst und der Hinwendung zu autobiographischen
Schreibweisen ein. Gleichzeitig unterscheiden sie sich von gängigen
Formen der Autobiographie, Biographie und des Zeugenberichts
in Comicform: Die autobiographische Erinnerungserzählung
von Guiberts Gesprächspartnern wird durch den Künstler
in Form eines Oral History-Comics vermittelt. Es sind Werke,
die auf verschiedenen Ebenen eine dialogische Form besitzen.
Der Zeichner setzt im Schaffensprozess Oral History-Methoden
in Form von jahrelangen Gesprächen mit verschiedenen Personen
ein und eignet sich diese anschließend in unterschiedlichen
Schritten einer komplexen Gedächtnisarbeit an. Es gilt,
der einzigartigen Stimme seiner Gesprächspartner und ihrer
im Dialog geformten autobiographischen Erinnerungen eine materielle
Form zu geben. Guibert tut dies, indem er sich auf die Bild/Text-Dynamik
des Comics, die Buchform und die spezifische Sinnlichkeit der
Zeichnungen stützt
(aus der Einleitung).
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